Die Kraft der Stille

Enjoy the silence.

Words like violence, break the silence. So hieß es schon in einem meiner absoluten Lieblingssongs von Depeche Mode. Ja: Worte sind oft ein Dorn im Fleische. Sie triggern uns, provozieren und verletzen, fordern zur Gegenwehr, zur Stellungnahme, zur Richtigstellung auf. Die erbitterten verbalen Grabenkämpfe rund um die Coronathematik in den sozialen Netzwerken führen uns das Tag für Tag vors Auge. Selten geht es hier um Dialog und Erkenntnisgewinn. Oder wie oft habt ihr Kommentare gelesen im Stil von „Ach, wie interessant! Danke für´s Teilen! Ich überdenke meinen Standpunkt nochmals. Du hast mich wirklich ins Grübeln gebracht mit deinem Beitrag.“ Die Filterbubble lässt grüßen. Impf-Lemminge hier. Schwurbler dort. So die gegenseitige Etikettierung.

Diagnose: Logorrhoe.

Unter Logorrhoe (oder Polyphrasie) wird in der Medizin ein krankhafter Rededrang bezeichnet, häufig ist er eine Begleiterscheinung neurologischer, oder psychischer Erkrankungen. Manisch-depressive Patienten, Demenzkranke, aber auch Personen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss sind häufig betroffen. Selbst, wenn man sich klinisch nicht in die oberen Kategorien einreihen mag: Den Zwang, jetzt sofort etwas sagen zu müssen, den kennen wir doch alle. Ob in der Familie, mit dem Partner, in der geselligen Runde mit Freunden oder im Business-Meeting. Wir wollen uns mitteilen, unseren Standpunkt, unsere Gefühle beitragen. Wir wollen gesehen, wahrgenommen, geschätzt werden. Sprache ist  nun einmal das humane Werkzeug, unser Miteinander im öffentlichen wie im privaten Raum zu gestalten, Überschneidungen und Differenzen aufzudecken und unseren contrat social immer wieder aufs Neue auszuhandeln. Die Kultur eines offenen, erkenntnisorentierten Dialogs, sie ist von unschätzbarem Wert und so ziemlich das Gegenteil der vielen Monologe, die wir täglich in den sozialen Medien sehen. Die ganzen Likes: Sie sind nicht mal ein Indikator für die tatsächliche Wertschätzung des Content und längst kein Zeichen dafür, dass der Inhalt auch gelesen wurde, sondern eher eine Art Social-Media-Währung. Nach dem Prinzip: Likst du mich, like ich dich. Wahrscheinlich liest sowieso keiner mehr irgendwas, es wird einfach zu viel produziert. Deshalb bitte ein Like mit dem Stichwort „Brontosaurus“, wenn du es bis hierher geschafft hast. Dann weiß ich, du warst echt inhaltlich dabei, wofür ich dir sehr danke.

Words per life – Einführung einer Wortobergrenze?

Ein spannender Gedanke: Was, wenn es so etwas gäbe wie „Words per life“ (WPL)? Also eine feste Begrenzung der Worte, die wir im Leben produzieren dürfen, bevor wir in ein ewiges Schweigen verfielen (für Frauen eine evtl. höhere Obergrenze festlegen!)? Erfasst würde alles über einen WPL-Zähler, der in real time aktualisiert als App verfügbar ist. Wir könnten ein Sprechfasten einlegen, wenn wir zuvor mal wieder über die Stränge geschlagen haben, z.B. an Weihnachten oder nach nach einer Woche voller Zoom-Meetings mit den Kollegen („Sorry, Leute, aber ich bin draußen für diese Woche. Muss meine WPL-Bilanz runterfahren für die Dienstags-Präse.“) Sicher würde es innerhalb dieser neuen Weltordnung auch eine Bewegung ähnlich dem veganen Lifestyle geben, wo man bewusst bestimmte Buchstaben meidet – vielleicht solche, die besonders häufig sind. So würde man über alles Gesagte vorher zweimal nachdenken und das würde automatisch eine geringere Wortlast pro Tag bedeuten. Oder einen kleineren verbalen Fußabdruck. Je nachdem, ob man übermäßiges Reden eher als Krankheit oder als Lärmverschmutzung betrachtet.

Ich weiß, das klingt alles erstmal lustig. Ich lade euch dazu ein, es seriös durchzuspielen für eine Woche. Es ernst zu nehmen mit der Wortbegrenzung. Das macht schon etwas mit einem. Man denkt über seine eigenen verbalen Reflexe nach und ich persönliche durfte auch feststellen: Ich fühle mich weniger erschöpft. Kunden verstehen es gut, wenn man offen damit umgeht und auch mal ein Zoom-Meeting oder ein Telefonat absagt. Ich will lieber weniger meeten, weniger reden, mehr Zeit zum Verarbeiten und Nachdenken haben, um dann frisch und mit einem guten Gedanken ins Gespräch zu gehen. Davon haben im Ergebnis alle mehr.

 „Bravo! Du hast diese Woche 3.504 Worte weniger gebraucht!“

Ich könnte mir denken, dass meine App mit zunehmendem Alter immer zufriedener mit mir wäre. Denn wo ich früher den Eindruck hatte, mich unbedingt einbringen zu müssen, sage ich mir heute innerlich immer häufiger: Lohnt sich das? Das Gespräch hatte ich doch schon einmal, so oder zumindest in sehr ähnlicher Form. Will ich das nochmal führen? Immer häufiger entschließe ich mich dann dazu, nichts zu sagen. Oder nur sehr wenig. Zum Beispiel in einer geselligen Runde mit Freunden, wo ich früher zu den Vielrednerinnen gehört habe. Zunehmend habe ich Freude daran, mich zurückzunehmen (jedenfalls arbeite ich daran), zuzuhören, Fragen zu stellen. Es ist interessanter. Ich lerne etwas. Inhaltlich zum besprochenen Thema, persönlich über die Menschen in der Runde, und natürlich: über Dynamiken der Gesprächsentwicklung an sich, was oft der spannendste Teil ist. Wo ich früher pointierte Kommentare aus reiner Lust am Wortwitz rausgehauen habe, stelle ich mir heute die Frage: Verletzt du damit vielleicht jemandes Gefühle – nur, um für einen momentanen Lacher zu sorgen? Ist es das wert?  Meistens lautet die Antwort: Nein. „Saving words can save friendships“ könnte auch eine Kampagnenline sein, mit der die neue WPL-App promoted wird. 

 Nicht-Kommunikation als Erfolgsstrategie für Markenkommunikation?

Das klingt erstmal nach einem Holzweg. Ist Markenkommunikation nicht dazu da, sich mitzuteilen? Ein klares Bild davon zu vermitteln, wer man ist, wofür man steht, was man zu bieten hat? Stimmt alles. Dennoch kommen Marken nicht um die Frage umhin, an welchen Teil-Diskursen sie sich ernsthaft beteiligen wollen, und: können. Denn nicht jeder hat zu allem etwas Substanzielles beizutragen. Ein Beispiel sind die vielen Weihnachts-Spots, die gerade Hochkonjunktur haben. Ein zu Tränen rührendes, netflixreifes Storytelling und am Ende: Logoabbinder Discount-Supermarkt. WTF? Da tun sich zumindest Fragen der Relevanz auf.  Doch Award-Kreativität ist nicht das Thema dieses Posts. Worum es geht: Es ist wichtig, als Marke das eigene Feld abzustecken. Man muss nicht auf jeder Bühne tanzen und zu jedem gesellschaftsrelevanten Thema einen Beitrag leisten. Ein Website-Unterpunkt „Nachhaltigkeit“, der außer dem gesetzlich vorgeschriebenen ISO-Zertifikat nichts vorzuweisen hat, ist meiner Ansicht nach verzichtbar. Ein Social-Media-Channel, der kaum bespielt wird oder wo Userkommentare ins Leere laufen – lieber nicht.

So weit, so gut. Und wahrscheinlich konsensfähig. Doch kann „weniger sagen“ auch eine Erfolgsstrategie sein? Müssen Marken im verschärften Wettbewerb nicht noch mehr erklären, wieso weshalb warum sie besser sind als die Konkurrenz? Die Krux an der Sache: Viel hilft nicht viel. Niemand wird wegen des 12. Bulletpoints auf der dritten Unterebene einer Website eine Kaufentscheidung treffen. Die fällt viel früher. Und damit sie früher fällt, müssen Unternehmen bzw. Marken früh auf den Punkt kommen. Weniger Worte machen, mehr Aussagen treffen. Weniger erklären, mehr spürbar werden. Weniger nachplappern, mehr zur eigenen Verbal Identity finden. 

Was für Menschen gilt, gilt vielleicht auch für Marken. Es ist ein Zeichen von Reife, wenn man gar nicht mehr so viel sagen muss. Das sitzt dann aber. 

So, jetzt muss ich aufhören. Meine WPL-Bilanz rutscht sonst in den roten Bereich.

 

 

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Kann Zufall Sinn machen? Eine kleine Betrachtung zu Finalitäten.

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