Kann Zufall Sinn machen? Eine kleine Betrachtung zu Finalitäten.

Es ist Sonntag, der 3. April. Gefühlt der kälteste Tag des ganzen Winters, der eigentlich (eigentlich!) längst vorbei ist. Ein Tag - wie gemacht, um all das zu tun, was man seit Ewigkeiten vor sich herschiebt. Papierkram sortieren. Die Küchenschränke säubern. Oder einen Online-Artikel lesen, in dem ich erfahre, wie ich in fünf einfachen Schritten zum Social-Media-Profi werde, mit drei alltagstauglichen Routinen meine Darmgesundheit fördere und in 3 Wochen endlich Handstand lerne. Ja, ja: Man soll seine Zeit sinnvoll nutzen! Aber was ist denn eigentlich sinn-voll? Wir verwenden den Begriff heute gerne in der Bedeutung von:  zweckhaft, einem unmittelbaren Nutzen untergeordnet. Sinn passiert jedoch auf geheimnisvolleren Wegen. Und genau darum geht´s im heutigen Blogartikel. 

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich habe mich einfach für ein Buch entschieden an diesem Schnee-Sonntag. Nein, keins zur Darmgesundheit oder dergleichen, sondern pure Belletristik. Weil Lesen an sich etwas Schönes, selbstgenügsam Sinnhaftes ist. Es funktioniert ganz ohne den Vampirsgedanken, etwa „rausziehen“ zu müssen, damit das Leben noch effizienter, gesünder, erfolgreicher wird. Manchmal muss der Geist ohne Leine drauflos laufen dürfen. Wie ein Straßenköter. Wild und frei. Hier ein bisschen schnüffeln. Da ein bisschen streunern. Neugierig gucken. Fährten aufnehmen, wieder loslassen. Ohne sich der Frage stellen zu müssen, wofür das denn jetzt konkret nutzbar ist. 

 

Cui bono? Sagte schon Cicero. Wem nützt es?

Beschäftigungen ohne direkte Weiterverwertbarkeit geraten heute schnell in Verruf. Über allem schwebt der unausgesprochene Imperativ des „Wozu?“. Und das hat Geschichte. „Cui bono?“ fragte schon der Anwalt Cicero. „Wem nützt es?“. Und während sich der Satz damals auf kriminalistische Sachverhalte bezog (der, dem eine Handlung nützt, der hat wahrscheinlich auch das Verbrechen begangen) – ist heute jeder schuldig, der eben keinen direkten Nutzen seiner Tätigkeit nachweisen kann. 

Wobei: Da geht´s schon los. Denn wer bestimmt eigentlich, welche Handlungen von Nutzen sind? Muss denn wirklich eine direkte Verbindung zwischen Handlung und Ergebnis bestehen? Nach dem Motto: Wenn ich schon Zeit „investiere“, dann muss da auch ein handfester, messbarer Outcome am Ende stehen. Wenn ich also schon lese, dann bitte etwas, womit ich meine Kundenakquise verbessern lerne, meine Darmzotten verbessere oder mehr Awareness und Dankbarkeit praktizieren lerne. In drei Wochen. Mit Geld-zurück- Garantie.

Nun glaube ich tatsächlich, dass die die allermeisten Dinge, die wir tun, einen Nutzen haben. Auch, wenn er sich nicht unmittelbar zeigt. Auch, wenn die Handlung selbst nicht darauf ausgelegt ist, nutzbringend zu sein. Irgendwie schleicht er sich dann eben durch die Hintertüre herein, der Nutzen. Beispiel: Wenn ich ein belletristisches Buch lese, dann KANN es sein, dass mir in dem Buch eine Passage, ein Wort, ein Charakter, eine Situation begegnet, an die ich mich irgendwann – viel später - wieder erinnere. Und die mir dann – tataaa! – von Nutzen ist. Etwa, weil ein Protagonist einen Namen hatte, den ich jetzt für ein Produkt-Naming als Rollenmodell nehme.  Das war nicht der unmittelbare Zweck damals beim Lesen, ich habe das Buch nicht gelesen, um einen Namen „rauszuziehen“, aber es geschieht einfach. Rein zufällig und gerade deshalb beglückend.

Mit der Lieblingsserie Leben retten? Geht.

Ein ziemlich spektakuläres Beispiel dafür, wie zufällig erworbenes Wissen sogar Leben retten kann, ist jenes des Marburger Kardiologen Professor Jürgen Schäfer. Im Jahre 2012 präsentierte sich ein 55-jähriger Patient mit mysteriöser Symptomatik bei ihm. Er war geplagt von Fieberschüben, Herzschwäche, Ausfällen beim Sehen und Hören. Die Kollegen waren ratlos. Wie passt das alles zusammen? Was war die Ursache für die Leiden dieses Mannes? Zum Glück erinnerte sich Schäfer als passionierter Fan der Serie „Dr. House“ an einen ganz ähnlich gelagerten Fall aus einer Episode – und konnte seinem Patienten das Leben retten. Hier wie da war´s eine Kobaltvergiftung, die die Wurzel allen Übels war. Hätte sich der Herr Professort also nicht die Zeit für seine Serienleidenschaft genommen, wäre der Patient vermutlich verstorben. 

Dem Zufall wieder mehr Raum geben. Das kann Sinn machen. Auch, wenn´s nicht sofort einen Nutzen abwirft. Denn wenn wir nur noch Dinge tun, die einen ganz konkreten Zweck verfolgen, dann wird das Leben eindimensional. Das Hirn kann keine spannenden Querverbindungen mehr herstellen, alles wird berechenbar, alle Menschen in deiner Filterbubble denken in dieselbe Richtung, alle haben die gleichen Lebens-, Karriere- und Gesundheitsratgeber gelesen und für sich die gleiche Weisheit daraus gezogen. Wir sollten uns wieder mehr auf das Abenteuer des Nichtkalkulierbaren einlassen. Dem Leben selbst in seiner nicht immer linearen Dynamik vertrauen, statt alles kontrollieren, steuern, überwachen zu müssen. Denn: Was kann schlimmstenfalls passieren? Nun, schlimmstenfalls – hatte man einfach eine gute Zeit. Mit einem spannenden Buch. Oder seiner Lieblingsserie. Und bestenfalls kann man das Ganze irgendwann im Leben tatsächlich noch: „nutzen“.  Das ist dann wunderbar, aber eben nicht: notwendig. 

 

Immer die Verkaufsdimension mitdenken: Das Entrepreneurs-Dilemma.

Als Selbstständige bin ich da in einem Zwiespalt. Natürlich will ich mich weiterbilden, darüber nachdenken, wie ich meinen Kunden etwas Tolles bieten kann. „Wie kannst du da ein Angebot draus machen?“ ist der natürliche Entrepreneursgedanke, der latent über allem schwebt. Heute aber knüpfe ich kein Angebot an diesen Beitrag. Ich werde euch keinen dreistündigen Workshop zum Thema „Raus aus der Nützlichkeitsfalle! Mehr Erfolg durch nichtlineares Denken. “ anbieten. Ich sag euch einfach: Leute, lest ein gutes Buch! Geht Hamster streicheln, euren Lieblingsmenschen küssen oder schaut einfach dem Aprilschnee beim Fallen zu. Vertraut darauf, dass euer Hirn den Rest erledigt, wenn die Zeit gekommen ist. Oder auch nicht. Aber löst euch von der Idee, dass alles immer sofort Sinn machen muss und einen „Mehrwert“ bietet. Wert reicht schon. Mehr-Wert ist optional! 

 

 

 

 

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